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Wann wird man je verstehen?

Wellenreiter-Kolumne vom 22. März 2014

„In der kommenden Ära ist es also zur Vermeidung großer Kriege zwischen den Kulturen erforderlich, dass Kernstaaten davon absehen, bei Konflikten in anderen Kulturen zu intervenieren. Das ist eine Wahrheit, die zu akzeptieren machen Staaten, besonders den USA, schwerfallen wird. Dieses Prinzip der Enthaltung, demzufolge Kernstaaten sich der Intervention bei Konflikten in anderen Kulturen enthalten, ist die erste Voraussetzung für Frieden in einer multikulturellen, multipolaren Welt.“

(Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, W. Goldmann Verlag 2002, Seite 522)

 

Die Diskussion um die Krim/Ukraine/Russland nervt. In manchen Fällen wird ohne jegliches historisches Verständnis debattiert. Es wird geschimpft, auf Ost, auf West, auf beide Seiten. Gefühle kochen hoch. Propagandaschlachten finden statt. Rechte Eiferer finden sich mit der SED-Nachfolgepartei „Die Linke“ in einem Lager. Es wird gedroht. Fakten werden geschaffen. Es wird sanktioniert.

 

Durch die intensive Recherche zum Buch „Weltsichten-Weitsichten“ (2004) hatte ich die Gelegenheit, Autoren wie Huntington, Toynbee oder Spengler zu studieren. Es drängt mich in der aktuellen Situation, einen Aufsatz zum Thema „Kulturkreise“ zu schreiben.


Merkmale und Definition von Kulturen

Zum Verständnis geopolitischer und geostrategischer Zusammenhänge erscheint das Denken in „Kulturen“ eine unabdingbare Voraussetzung. Elementare Merkmale von Kulturkreisen sind gemeinsame Werte, Überzeugungen, Institutionen und nicht zuletzt die Religion. Die Religion ist nach wie vor einer der wichtigsten Faktoren. Auch wenn viele Staaten längst säkularisiert sind und die Kirchen leer sind, so wurde der heute gültige Wertekanon maßgeblich durch die Religion aufgebaut. Kulturen sind nach menschlichen Maßstäben langlebig. Auch wenn die Zahl der Kulturen je nach Autor schwankt: Landläufig lassen sich eine chinesische, japanische, indische, islamische, lateinamerikanische, afrikanische, westliche und orthodoxe Hochkultur identifizieren.

 

 

Kulturen in Europa

Europa ist das Stammgebiet zweier Kulturen, die beide aus den Bruchstücken des römischen Reiches hervorgegangenen sind: Die westliche und die orthodoxe Kultur.

 

Die westliche Kultur ist den Überbleibseln des weströmischen Reiches entsprungen. Sie nennt den römisch-katholischen Glauben entweder als Ursprung oder in verwandter Form (Protestantismus) ihr Eigen. Feudalismus, die Renaissance, die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution und die industrielle Revolution sind gemeinsame Erfahrungen. Nord-, West-, und Mitteleuropa zählen zum westlichen Kulturkreis. Hinzu kommen Nordamerika sowie Länder, die von Europa aus besiedelt worden sind (Australien, Neuseeland).

 

Die aus dem oströmischen Reich hervorgegangene christlich-orthodoxe Kultur umfasst Russland, Weißrussland, die Ukraine, Moldawien, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien und nicht zuletzt Griechenland. Diese Staaten waren jahrhundertelang Teil des russischen oder osmanischen Reiches.

 

Der erste Weltkrieg

Die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts – der erste Weltkrieg – entzündete sich an einer Bruchlinie des westlichen und des orthodoxen Kulturkreises mit islamischen Einsprengseln: in Sarajevo. Dort wurde am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet. Bosnien-Herzegowina sollte aus Österreich-Ungarn herausgelöst und der Führung Serbiens anheimgestellt werden. Österreich-Ungarn versicherte sich für den Fall, dass es Serbien den Krieg erklären würde, der Rückdeckung des Deutschen Kaiserreichs. Serbien erhielt von Russland eine entsprechende Unterstützungszusage. Als Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg erklärte, löste dies auf beiden Seiten den Bündnisfall aus, die wiederum dahinter liegende Verpflichtungen aktivierten. Halten wir fest, dass ein Zusammenprall des westlichen mit dem orthodoxen Kulturkreis der Trigger für den ersten Weltkrieg war.

 

Momentum

An den Aktienmärkten steht das Wort „Momentum“ für einen scheinbar nicht enden wollenden Trend. Eine Aktie steigt, testet einen Widerstand, dann konsolidiert sie, überwindet schließlich den Widerstand, steigt weiter, gelangt an den nächsten Widerstand, überwindet ihn. Und so weiter und so fort.

 

Dieses Bild lässt sich auf Unternehmen (Facebook, Google), auf den Sport - beim Fußball nennt man es „einen Lauf haben“ – oder auf die Politik übertragen. Die Führungsrolle der USA des westlichen Kulturkreises nahm an Fahrt auf, nachdem die Europäer ihre Position im ersten und zweiten Weltkrieg schwächten.


Hitlers Momentum

Im Vorfeld des zweiten Weltkrieges hatte Hitler immer wieder getestet, wie Franzosen, Briten, Amerikaner und Russen auf die schrittweise territoriale Ausweitung des deutschen Reiches reagierten. Ob in der Remilitarisierung des Rheinlands (1936), den „Anschluss“ Österreichs (1938) oder den Einmarsch in das Sudetenland (1938): Hitler erhielt als Rückmeldung den Eindruck von Desinteresse, Negation, und militärischer Unlust. Diese „Appeasement“-Politik endete erst im Frühjahr 1939.

 

Eurasische Union

Wladimir Putin betont bei jeder Gelegenheit die orthodoxen Wurzeln Russlands. Putin nimmt für Russland die Führung des orthodoxen Kulturkreises in Anspruch. Er möchte mit der eurasischen Union, die bereits als Wirtschaftsgemeinschaft besteht, ein Gegengewicht zur europäischen Union setzen. Die Gründung ist für das Jahr 2015 geplant. Russland, Weißrussland, Armenien und Kasachstan sind als Gründungsmitglieder vorgesehen. Putin sieht den Westen als dekadent und im Abstieg begriffen an. Er beruft sich auf orthodoxe Moralvorstellungen, die im Gegensatz zu westlichen Vorstellungen stehen. Der Umgang mit Homosexuellen, mit Kritikern des Kremls oder die Inhaftierung von „Pussy Riot“ sind Ausdruck dieser Einstellung. Offenheit und Toleranz werden als negative Werte des Westens begriffen.

 

Um eine eurasische Union dauerhaft und stabil bauen zu können, dürfte der eigene Kulturkreis das erste Ziel dafür sein, Verbündete und Partner zu gewinnen. Da Estland, Lettland, Litauen und Polen Staaten mit überwiegend evangelischer bzw. römisch-katholischer Tradition sind, dürfte Putins Blick nach Südosteuropa schweifen. Die orthodoxen Staaten Rumänien und Bulgarien sind Mitglieder der Europäischen Union. Die EU hat Beitrittsverhandlungen mit Serbien aufgenommen. Es wird damit gerechnet, dass ein Beitritt nicht vor 2020 erfolgen kann. Die Kosovo-Frage bleibt ein Zankapfel.

 

Zypern ist ein orthodoxes EU-Mitglied, in dem sich Russen (nicht nur Urlauber, sondern auch Oligarchen und russische Unternehmen) wohl fühlen. Griechenland ist von Europa – insbesondere von Deutschland – enttäuscht. Es erscheint durchaus vorstellbar, dass eine Moskau-basierte eurasische Union Serbien, vielleicht längerfristig auch Zypern und Griechenland integriert. Rumänien und Bulgarien könnten in einem solchen Fall ebenfalls in Richtung eurasische Union zu tendieren. Putin könnte durchaus testen, inwieweit er Momentum in Richtung Südosten aufbauen kann.

 

Putins Probleme

Putin wirft dem Westen korrekterweise Verfallserscheinungen vor, übersieht dabei jedoch die eigenen Probleme. Der orthodoxe Kulturkreis hat eine demographische Entwicklung vor sich, die ihn gegenüber dem Westen benachteiligt.

 

 

Zudem erscheint die wirtschaftliche Macht einer eurasischen Union begrenzt. Nicht ein einziges orthodoxes Land verfügt über ein florierendes, auf Handel und Ideen basierendes Geschäftsmodell. Die Abhängigkeit von Rohstoffen ist eklatant. Auch stimmen die Einwohner der orthodoxen Länder mit den Füßen ab. Der weitaus größte Zustrom von Ausländern nach Deutschland erfolgt aus diesem Kulturkreis. Eine eurasische Union wäre wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig. Allenfalls das Denken in Machtoptionen (Schaffung einer Pufferzone zwischen dem Westen und Russland) könnte erklären, warum Putin die eurasische Union ausbauen möchte.

 

Orthodoxes Konzil

Kürzlich haben sich die Oberhäupter orthodoxer Kirchen in Istanbul getroffen. Sie haben beschlossen, dass im Jahr 2016 - erstmals seit 1.200 Jahren - ein gemeinsames orthodoxes Konzil stattfinden soll. Es soll die Einheit der Orthodoxie stärken. Putin  möchte verhindern, dass der orthodoxe Kulturkreis im europäischen Teil des westlichen Kulturkreises aufgeht. Aus diesem Grund dürfte er Schritte zur Stärkung der Orthodoxie ausdrücklich unterstützen. Im dürfte daran gelegen sein, die Bedeutung und das Wertesystem der Orthodoxie zu festigen.

 

Istanbul - das frühere Konstantinopel - ist Sitz des Patriarchen der orthodoxen Kirche. Der Patriarch ist zwar kein „orthodoxer Papst“. Doch wird er als „Ehrenoberhaupt“ anerkannt. Kiew ist der Entstehungsort der russisch-orthodoxen Kirche.

 

Russland und die Türkei

Die türkische Kultur erscheint von der christlich-orthodoxen Kultur nicht so weit entfernt, wie gemeinhin suggeriert wird. Istanbul war 1000 Jahre lang als Konstantinopel die Hauptstadt des christlich-orthodoxen oströmischen Reiches, bevor es zum islamischen Istanbul wurde. Große Teile des Balkans waren Jahrhunderte lang türkisch und damit islamisch besetzt. Der gegenseitige kulturelle Austausch zwischen der christlich-orthodoxen und der islamischen Kultur hatte viel Zeit, sich zu entwickeln und ist nicht ohne Folgen für beiden Kulturen geblieben. Einige dieser Länder sind sich heute viel näher, als sie es zugeben möchten.

 

Gemeinsamkeiten zwischen Putin und Erdogan im Sinne des autokratischen Führungsstils sind augenfällig. Die Türkei wählte bereits 1954 den Weg in die NATO. Sie hält sich im Krim-Konflikt deutlich zurück. Russische Kriegsschiffe erhalten ebenso Genehmigungen zur Passage des Bosporus wie die US-Kriegsmarine. Die aus türkischer Sicht „ewige“ Hinhaltetaktik der Europäischen Union im Hinblick auf ihr EU-Beitrittsgesuch könnte Putin nutzen, um der Türkei den Eintritt in die eurasische Union schmackhaft zu machen. Genauso wie Zypern ist die türkische Südküste um Antalya das Ziel zahlreicher russischer Touristen. Auch laufen eine Vielzahl von Öl-Pipelines durch die Türkei Richtung Westen.

 

Globale Bündnisse

Jahrzehntelang standen sich NATO und Warschauer Pakt im kalten Krieg gegenüber. Während sich der Warschauer Pakt auflöste, expandierte die NATO stetig gen Osten.  China spielte militärisch eine untergeordnete Rolle. Es ist jedoch klar, dass eine wachsende Wirtschaftsmacht wie China seine militärische Schlagkraft auszubauen versucht. Da Japan sich in einem Bündnis mit den USA befindet, durch das sich China in seinem Einflussbereich – dem Südchinesischen Meer - bedroht sieht, erscheint es nicht verwunderlich, wenn Russland und China sich Rücken an Rücken stellen. Man plant den Abschluss eines Militärbündnisses. Der Westen und Japan stehen auf der einen Seite,  China und Russland auf der anderen Seite.

 

Es könnte eine ganze Menge schiefgehen. Würden sich China und Russland zu gegenseitigem Eingreifen verpflichten, so könnte China es – mit Russland im Rücken – wagen, das Problem der Senkaku-Inselgruppe militärisch lösen zu wollen. Ähnlich, wie Österreich-Ungarn es vor 100 Jahren nur nach Rückversicherung durch den Deutschen Kaiser gewagt hat, Serbien den Krieg zu erklären.

 

Westliche Werte

Beitrittsverhandlungen Brüssels mit Nicht-EU-Staaten laufen nach Schema F ab. Ein großer Anforderungskatalog muss abgearbeitet werden. Jahre vergehen, bevor eine Aufnahme beschlossen wird. Den Bürokraten waren die geostrategischen Implikationen der sukzessiven Südost-Erweiterung offenbar nicht bewusst. Es ist doch klar, dass ein russischer Staatschef den Eindruck bekommen muss, dass da eine Welle auf ihn zurollt, die seinen Kulturkreis einverleiben will.

 

Sind „westliche Werte“ wie Toleranz, Freiheit des Individuums oder Rechtsstaatlichkeit  auf andere Kulturkreise übertragbar? Da das westliche Verständnis für die Werte anderer Kulturkreise beschränkt ist, und in der Praxis gute gemeinte Ratschläge des Westens gern überhört werden, sollte man sich darauf konzentrieren, die eigenen Werte für die eigene Bevölkerung durchzusetzen. Im westlichen Kulturkreis wird die Freiheit des Individuums (Stichwort: NSA) durchaus unterschiedlich interpretiert.

 

Lösungen

Die Ukraine gehört ganz überwiegend dem orthodoxen Kulturkreis an. Der Westen hätte sich bewusst machen müssen, dass er den orthodoxen Kulturkreis nicht einfach in sich aufsaugen kann. Der Westen hätte wissen müssen, dass es zu Problemen kommt, wenn er die weisen Worte von Huntington ignoriert: „Kernstaaten sollten davon absehen, bei Konflikten in anderen Kulturen zu intervenieren. Das ist eine Wahrheit, die zu akzeptieren machen Staaten, besonders den USA, schwerfallen wird“. Mit „Fuck the EU“ kommt man in einer solchen Angelegenheit nicht weiter. Die Krisendiplomatie, auch das wiederholte Auftreten des deutschen Außenministers in der Ukraine macht die Angelegenheit nur noch schlimmer. Kluge Zurückhaltung wäre angebracht gewesen. Die Ukraine muss als souveräner Staat ihre inneren Konflikte selbst austragen. Die Türkei mischt sich – obwohl Schwarzmeeranrainer – in diesen Konflikt ebenfalls nicht ein. Es gilt, die Bruchlinien der Kulturkreise zu beachten.

 

Das was jetzt geschieht, wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Das ist doch absehbar. Russland dürfte nun intensiver mit China über ein Militärbündnis verhandeln. Sanktionen des Westens wirken sich nicht nur auf Russland aus, sondern stören - über die global vernetzte Weltwirtschaft - das Gleichgewicht. Wenn die russischen Oligarchen Sicherheiten verkaufen, um einen Kredit zu bedienen, dann fällt irgendwo der Kurs einer Aktie oder eines Rohstoffs. Zudem kochen wegen eines Konflikts  in einem 45 Mio. Einwohner zählenden Land unnötigerweise die Emotionen hoch. Das erinnert in der Tat ein wenig an Sarajewo vor 100 Jahren. Nichts hat die Politik gelernt. Warum greifen immer wieder die gleichen Mechanismen und schaukeln sich hoch?

 

Wenn man – wie Huntington -  davon ausgeht, dass eine auf Kulturen basierende internationale Ordnung den sichersten Schutz vor einem Weltkrieg darstellt, dann müssen die führenden Politiker und Intellektuellen einander verstehen und miteinander kooperieren. Das ist sozusagen „alternativlos“. Dabei kann es nicht schaden, auch einmal die Perspektive zu wechseln und sich in den „Gegner“ hineinzuversetzen.

 

Es gibt keine andere Lösung, wenn man Kriege vermeiden will.

 


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