Sie sind hier
Das Sabbatjahr 2021/22
„Und sechs Jahre besäe dein Feld und sammle seinen Ertrag ein. Aber im siebten lass es ruhen und brachliegen, damit die Armen deines Volkes essen mögen, und was sie übrig lassen, mögen die Tiere des Feldes essen, und so mache es mit deinem Weinberg und deinem Olivenhain“ (Exodus 23:10–11)
Am 7. September 2021 begann ein neues Sabbatjahr. Anlass genug, die zum Sabbatjahr 2014/15 erschienene Kolumne erneut auszurollen. Vor sieben Jahren veröffentlichten wir die folgenden Zeilen. Der im Text erhaltene Chart ist aktualisiert. Den Beginn des neu hinzugefügten Textes machen wir mit einem entsprechenden Hinweis kenntlich. Am Ende gibt’s noch als Zugabe eine Beschreibung, wie ein Bärenmarkt typischerweise abläuft.
Los geht’s mit dem Text aus dem Dezember 2014:
„Vor kurzem fiel mir das Buch „The Mystery of the Shemitah“ („Das Mysterium der Schmitta“) in die Hände. Der messianische Rabbi Jonathan Cahn veröffentlichte es im September 2014. Darin beschäftigt er sich mit der Finanzmarkthistorie und stellt fest, dass die Börse einem Sieben-Jahres-Zyklus folgt, der eng mit dem Sabbatjahr (auch Schmitta genannt) verbunden ist. Nach einigen Buchseiten wird klar, dass hier jemand am Werk ist, der den Leser im Brustton seiner religiösen Überzeugung, aber durchaus mit nachvollziehbaren Argumenten warnen möchte. Bevor Fragen aufkommen, was ein „messianischer Jude“ ist: Es ist ein Bürger jüdischen Glaubens, der Jesus als Messias anerkennt.
Noch heute halten sich orthodoxe Juden an das Sabbatjahr. In Analogie zum Sabbat als Ruhetag (siebter Tag der Woche) bezeichnet das Sabbatjahr das Jahr, in dem die Bewirtschaftung des Ackerlandes ruhen soll. Nach sechs Jahren Bebauung wird das Land ein Jahr brach liegen gelassen.
Als ich das Buch über die Weihnachtsfeiertage las, blieb die Faszination und der Drang, es nicht unkommentiert zu lassen.
Das Alte Testament kennt mehrere Textstellen zum Sabbatjahr, unter anderem die folgende:
„Am Ende von sieben Jahren halte Erlass. Und dies ist die Angelegenheit des Erlasses: Jeder Gläubiger erlasse, was er seinem Nächsten geliehen hat, er dränge nicht seinen Nächsten und seinen Bruder, denn ein Erlass Gottes ist verkündet“ (5. Buch Mose / Deuteronomium 15:1–2)
Für Jonathan Cahn manifestiert diese Bibelstelle dem Schlüsselbezug zur Börse: Im Sabbatjahr werden die Unebenheiten im Finanzsystem bereinigt. Und zwar nicht zu Beginn, sondern „am Ende von sieben Jahren“. Also am letzten Tag des Sabbatjahres.
Diese These ist überprüfbar. Sabbatjahre sind feststehende Bestandteile des jüdischen Kalenders. Der jüdische Kalender orientiert sich – wie sein Vorbild, der babylonische Kalender – hauptsächlich an den Mondphasen („Monate“), behält aber gleichzeitig das Jahr („Umlauf der Erde um die Sonne“) im Blick. Die Differenz wird mit einem Schaltmonat ausgeglichen.
Das letzte Sabbatjahr endete am 29. September 2008. An jenem Tag fiel der Dow Jones Index sinnigerweise um 777,7 Punkte. Dies war der größte bisher gemessene Tagesverlust in Punkten (nicht in Prozent). Im Rahmen der anschließenden Oktober-Panik (Lehman-Crash) fielen die Märkte noch deutlich tiefer. Andererseits: Jener 29. September 2008 hat seinen Platz in der Geschichte als einer der größten Paniktage.
Blenden wir einen weiteren Sieben-Jahres-Zyklus zurück. Die Börsen hatten im Frühjahr 2000 ihr Hoch markiert, bäumten sich aber im Sommer 2000 nochmals auf. Der S&P 500 markierte am 1. September 2000 - nur knapp unter seinem Allzeithoch – ein wichtiges sekundäres Hoch. Von dort aus ging es bergab.
Das damalige Sabbatjahr begann am 30. September 2000 und endete am 17. September 2001. Jener 17. September war der erste Tag, an dem die New Yorker Börse nach den Anschlägen vom 11. September wiedereröffnete. Der Dow fiel um 685 Punkte. Zum damaligen Zeitpunkt war dies der mit Abstand höchste Tagespunktverlust. Nach einem Zwischenspurt zum Jahresende kam der Bärenmarkt erst im Oktober 2002 zur Ruhe.
Noch ein Zyklus früher: Im Sabbatjahr September 1993 bis September 1994 schossen die US-Renditen deutlich nach oben. Allerdings reagierten die Aktienmärkte nicht panisch. Sie markierten eine Seitwärtsbewegung, in der eine 10-Prozent-Korrektur das Maximum darstellte. Ein Crash-oder Bereinigungsdatum lässt sich nicht zuordnen. Anschließend stiegen die Märkte für mehrere Jahre deutlich.
Im Sabbatjahr September 1986 bis September 1987 stiegen die Aktienmärkte in einer Blow-off-Bewegung zunächst deutlich an, bevor der Dow Jones Index am 25. August 1987 sein Hoch markierte. Die anschließende Abwärtsperiode gipfelte im Oktober-Crash.
Betrachtet man die letzten vier Sabbatjahre (1986/87, 1993/94, 2000/01, 2007/08), so lässt sich in drei von vier Fällen ein Hang zum Drama feststellen, wobei der Renditeanstieg 1994 für die Aktienmärkte zwischenzeitlich auch nicht ganz ohne war.
Sabbatjahre haben einen Bezug zu heftigen Ölpreisbewegungen. So umfassten die Sabbatjahre 1972/73, 1979/80 und 2007/08 Ölkrisen und Preisanstiege. Auf der anderen Seite begann jeweils kurz vor Beginn der Sabbatjahre 1986/87, 1993/94 und 2014/15 ein deutlicher Ölpreisrutsch.
In Sabbatjahren scheint eine Neigung zu steigenden Renditen zu bestehen. So zogen die Renditen in den Sabbatjahren 1972/73, 1979/80, 1986/87, 1993/94 sowie im Vorfeld der Sabbatjahre 2000/01 und 2007/08 deutlich an.
Damit Sie sich selbst ein Bild von den Bewegungen an den Aktienmärkten machen können, stellen wir nachfolgend alle Sabbatjahr-Anfänge seit 1900 in einem Chart dar.
September 1902, 1909 und 1916 waren jeweils „Volltreffer“, was nachfolgende Korrekturen angeht, genauso wie die Septembermonate der Jahre 1930, 1937, 1965, 1972, 2000 und 2007.
Elf der sechzehn Sabbatjahre seit 1900 sahen Korrekturen, Crashes oder Bärenmärkte größeren Ausmaßes. Die Abwärtsbewegung Top zu Boden im Dow Jones Index betrug in jedem dieser Jahre 20 Prozent oder mehr. Weitere drei Sabbatjahre sahen zunächst Seitwärtsbewegungen (1923, 1951, 1993), bevor sich eine Aufwärtsbewegung durchsetzte. Nur zwei der sechzehn Sabbatjahre lassen sich als uneingeschränkt positiv bezeichnen (1944 und 1958).
Es wäre des Guten zu viel, an der Börse ein durchgängiges, verlässlich zyklisches Muster zu erwarten. So funktioniert die Börse nicht. Fest steht nur: Das Sabbatjahr 2014/15 hat begonnen. Es zeigte mit dem Beben vom 15. Oktober (Intraday-Renditedurchsacker) seine Visitenkarte. Auch die heftige Bewegung im Ölpreis ist für ein Sabbatjahr typisch. Und ein Renditeanstieg wäre eine naheliegende, weil in solchen Jahren häufig zu beobachtende Option.
Der 13. September 2015 wird das Ende des laufenden Sabbatjahres bezeichnen. Es kann sein, dass um diesen Tag herum (ein Sonntag) etwas Brisantes geschieht. Allerdings lässt sich ein Zwang aus den vorliegenden historischen Geschehnissen nicht ableiten.
Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass der Herbst 2015 einiges an Brisanz mit sich bringen könnte. Dies würde sich mit unserer im Wellenreiter-Jahresausblick aufgestellten These decken, wonach ein wichtiges Aktienmarkthoch recht früh im zweiten Halbjahr auf dem Plan stehen könnte.“
Soweit der damalige Text. Da ist einiges an wiederkehrenden Mustern drin, z.B. ein Renditeanstieg und die Rolle des Ölpreises. Bevor wir versuchen, daraus Honig für heute zu ziehen, ein Rückblick darauf, was im Sabbatjahr 2014/15 geschah.
In der Tat verlief das Jahr 2015 ernüchternd, wenn auch das Resultat im Dow Jones Index nach einer volatilen Fahrt am Jahresende mit -2,2% noch annehmbar war. Der Dow Jones Index markierte im März und Mai ein Doppelhoch. Es setzte eine 15-Prozent-Korrektur mit einem Tief am 25. August, also drei Wochen vor dem 13. September. Der DAX korrigierte gar um 25 Prozent. Die Rendite 10jähriger US-Staatsanleihen stieg von 1,6 auf 2,5 Prozent. Der Ölpreis fiel von Mai bis August 2015 von 60 auf 38 US-Dollar. Noch im Jahr zuvor notierte er oberhalb von 100 Dollar.
Einer der Auslöser für die Bewegung war die wirtschaftliche Schwäche Chinas gewesen. Im Februar 2016 wurde das August-2015-Tief des Dow Jones Index nochmals erreicht. Dieses Tief beendete die Schwächephase der Finanzmärkte und leitete in die starke Aktienmarktphase 2016/17 über. Das Sabbatjahr 2014/15 lieferte typische Tücken: Volatile Aktienmärkte bei steigenden Renditen und ein trendiger Ölpreis – dieses Mal deutlich fallend.
Zoomen wir nach vorn in die Gegenwart. Der 7. September 2021 bezeichnet den Beginn des Sabbatjahres 2021/22. Im September 2021 begannen die europäischen Energiepreisabsurditäten mit extremen Spitzen im Kohle-, Erdgas- und Strompreis. Die Inflation schoss nach oben. Bitcoin fällt seit seinem November-Allzeithoch. Die Renditen steigen seit Ende Dezember deutlich. Im Dezember manifestierte sich die Schwäche des breiten Technologiemarktes. An vielen Tagen übertraf die Zahl der neuen Tiefs die Zahl der neuen Hochs. Der Hang zu Qualitäts- und defensiven Titeln nimmt zu.
Zählt man vom Jahr 2022 jeweils sieben Jahre zurück, so sind berühmt-berüchtigte Börsenereignisse wie an einer Perlenschnur ablesbar: 2015 (Ölpreis/China-Krise), 2008 (Lehman), 2001 (9/11), 1994 (Renditeschock), 1987 (Crash), 1980 (Inflationshoch), 1973 (Ölpreis-Schock) und 1966 (Beinahe-US-Rezession). Der Dow Jones Index beendete den Schlussmonat der vergangenen sieben Sabbatjahre (September) jeweils negativ.
Das Sabbatjahr 2021/22 wird am 25. September 2022 enden. Der Entzug von Liquidität sowie die Zinserhöhungen sprechen auch dieses Mal für eine volatile Phase an den Aktienmärkten. Das Korrekturpotential für den Dow dürfte im ersten Halbjahr 15% betragen. Wenn es gut läuft, kann sich der Markt im zweiten Halbjahr retten, möglicherweise erst in Q4. Eine Rezession ist für eine 15%-Korrektur nicht zwingend erforderlich. Eine Inversion der US-Zinsstrukturkurve zeigt US-Rezessionen zuverlässig an, und zwar mit einer Vorlaufzeit von etwa einem Jahr. Zuletzt gelang dies für die Rezession des Frühjahrs 2020. Ein Rezessionssignal wird aktuell nicht ausgerufen.
Der schlechtere Fall würde eintreten, wenn die Zinsen am langen Ende fallen und den Leitzinserhöhungen entgegenkommen würden, sodass sich eine Inversion ausbilden würde. Im Rahmen einer Rezession würde sich ein Bärenmarkt (definiert als Verlust von 20% oder mehr) kaum vermeiden lassen. Dieser würde sich wahrscheinlich bis in das Jahr 2023 hinziehen. Er könnte auch erst im letzten Drittel – wie das häufig war – die 20%-Bärenmarktgrenze unterschreiten.
Ein Bärenmarkt lässt sich idealtypisch in drei Phasen einteilen. Eine initiale Panikphase, die überraschend kommt und recht weit am Anfang steht, kennzeichnet den Beginn. Der Markt – nehmen wir den Dow Jones Index – fällt schnell und kann wie 2000 und 2007 um die 15% Verlust vom Top produzieren, manchmal auch mehr. Dies geschieht bevorzugt von einem niedrigeren Hoch aus, also nicht direkt vom Top. Dieser erste Einschlag wird gekauft. Die zweite Phase ist von einem volatilen Hoffen und Bangen gekennzeichnet. Es geht seitwärts-/aufwärts. Sie kann einige Monate dauern.
Die dritte und letzte Phase ist die Kapitulationsphase. Das Sentiment wird sehr negativ, „the end is near“. Da kommen nochmals 15 bis 20%-Verlust drauf. Die Welt geht aber nicht unter, sondern es ergibt sich eine sentimenttechnisch und durch 90%-Aufwärtsvolumen-Tage wohl annoncierte und langfristige Kaufgelegenheit. Es wird neue Favoriten geben, die es dann zu identifizieren gilt. Rohstoffpreise (z.B. Kupfer) sind häufig mit die ersten, die wieder steigen und dem Aktienmarkt vorauslaufen.
Wie gesagt, diese Beschreibung verarbeitet den Durchschnitt vieler Bärenmärkte. Uns erscheint es wichtig, dass eine Vorstellung davon existiert, wie sich ein solcher Ablauf gestalten könnte. Gleichzeitig sind weiterhin auch positivere Szenarien (Korrektur, kein Bärenmarkt) möglich, solange eine Inversion der Zinsstrukturkurve nicht Realität geworden ist.
Im Sabbatjahr ruhen die Felder und Äcker. Danach beginnt die erneute Aussaat. Die nächste Ernte wird nach der üblichen Reifezeit wieder eingefahren werden.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
Testen Sie unsere Frühausgabe.
Ein kostenloses 14-tägiges Schnupper-Abonnement können Sie hier bestellen: Schnupper-Abo bestellen
Wochenend-Kolumne abonnieren.
Weitere Kolumnen finden Sie im Archiv.